Ist es egoistisch, sich selbst in den Mittelpunkt seines Lebens zu stellen oder ist das Gegenteil der Fall? Vielleicht kennst Du die Sicherheitseinweisung beim Fliegen: zuerst sich selbst die Atemmaske überziehen und dann um andere Passagiere kümmern.
Lässt sich das Prinzip auf das tägliche Leben übertragen?
Wenn es darum geht, für sich selbst einzustehen und seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse wichtig zu nehmen, höre ich von meinen Kunden oft Sätze wie „Wenn ich die Aufgabe nicht übernehme, müssen es meine Kollegen ausbaden“ oder „Wenn ich abends nicht zu Hause bin, muss sich mein Mann alleine um die Kinder und das Essen kümmern“.
Sicher gibt es Zeiten oder Situationen, in denen es richtig und wichtig ist, seine eigenen Interessen zurück zu stecken, aber das darf nicht die Regel und schon gar nicht von Dauer sein. Wie immer ist eine gute Balance der Königsweg. Um diesen Weg für Dich zu finden, ist es wichtig zu verstehen, was genau mit Selbstfürsorge gemeint ist und warum es Dir so schwerfällt, für Dich selbst zu sorgen.
Was genau ist Selbstfürsorge?
Bei Selbstfürsorge geht es grundsätzlich um eine liebevolle und wertschätzende Haltung sich selbst gegenüber. Es bedeutet, seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen. Und: sie ernst und wichtig zu nehmen. Das heißt, selbst dafür zu sorgen, dass Deine Bedürfnisse und Wünsche auch erfüllt werden. Oft kollidieren die aber mit den Interessen anderer Menschen und da fängt es an schwierig zu werden. Denn dann wird Selbstfürsorge in Form von Nein-Sagen oder Grenzen setzen oft als Egoismus missverstanden.
Warum fällt es uns so schwer, uns selbst wichtig zu nehmen und Grenzen zu setzen?
Dafür gibt es zwei Gründe:
In unserer Gesellschaft werden Menschen, die für sich einstehen schnell als Egoisten abgestempelt nach dem Motto „Der oder die denkt ja nur an sich – wo kommen wir denn da hin, wenn das jeder macht.“
Hinzu kommt, dass es in unserer Gesellschaft hohes Ansehen genießt, anderen Menschen zu helfen und der Gemeinschaft zu dienen. Daran ist grundsätzlich nichts falsch. Schwierig wird es nur dann, wenn Du entgegen Deiner eigenen Interessen handelst. Also z.B. immer wieder Aufgaben annimmst, weil Du Dein Team nicht hängen lassen willst, aber damit Deine eigene Belastbarkeit überstrapazierst. Oder wenn Du anderen nicht deshalb hilfst, weil es Dir Freude bereitet, sondern weil Du damit Deinen Selbstwert fütterst. In meinem Verständnis ist genau das egoistisch. Denn genau genommen benutzt Du dann andere Menschen, um ein Loch in Dir zu stopfen, das Du nur selbst stopfen kannst. Und Du hältst Andere davon ab, für sich selbst einzustehen und Verantwortung für sich zu übernehmen.
Der zweite Grund ist, dass wir alle das Bedürfnis haben, geliebt zu werden und dazu zu gehören. Ganz früh haben wir schon gelernt, dass dieses Grundbedürfnis dann erfüllt wird, wenn wir unsere eigenen Interessen zurückstellen und uns an die Erwartungen Anderer anpassen. Genau das machen wir als Erwachsene immer noch unbewusst. Wir ordnen unsere Interessen unter, um Anderen zu gefallen. Weil wir dazugehören und geliebt werden wollen. Bei manchen Menschen geht die Anpassung sogar so weit, dass sie nicht einmal mehr wahrnehmen, was sie selbst wollen.
Die Belohnung für Anpassung ist, dass jeder dich mag, außer du dich selbst.
Rita Mae Brown
Erst wenn Du diese zwei Gründe für Dich persönlich ent-wickelt hast, wirst Du Deine Wünsche und Bedürfnisse wieder ernst nehmen oder überhaupt erst wahrnehmen können. Dann kannst Du frei entscheiden, wann Du Deine Wünsche und Bedürfnisse wichtig nimmst und erfüllst und wann es für Dich stimmig ist, sie in einer bestimmten Zeitspanne oder in einer Situation anderen Interessen unterzuordnen. Allerdings als bewusste Entscheidung, nicht als unbewusste Reaktion, die einem in Deiner Kindheit erlernten Verhaltensmuster folgt.
Die Arbeitswelt profitiert davon, dass wenige Menschen mutig genug sind, sich dieser Ent-wicklung zu stellen und die dargestellten Konditionierungen und Verhaltensmuster zu durchbrechen. Und somit funktioniert das System „Profit – not People“ so lange weiter solange jeder Einzelne es mitträgt. So lange wie es Menschen gibt, die nicht für sich selbst einstehen und Grenzen setzen. Genau genommen sind Menschen heute moderne Sklaven der Marktwirtschaft. Human doing statt Human being.
Welchen Nutzen hat Selbstfürsorge also – für Dich und Andere?
Erfüllst Du Dir Deine Bedürfnisse, bist Du gefüllt und hast etwas zu geben. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ meint genau das. Zunächst müssen wir lernen, uns selbst zu lieben. Dann sind wir erfüllt mit Liebe und können Liebe weitergeben.
Sei wie eine Brunnenschale, die zuerst das Wasser in sich sammelt und dann überfließend es weitergibt.
Bernhard von Clairvaux
Wenn Du gut für Dich sorgst, brauchst Du nicht jemand anders benutzen, um Deine Bedürfnisse zu erfüllen. Dann erfüllst Du sie Dir selbst. Und solange Du beim Erfüllen Deiner Bedürfnisse noch an Andere denkst, kannst Du gar nicht egoistisch sein. Denn Egoisten haben kein Mitgefühl, weder für sich selbst noch für Andere. Selbstfürsorge ist also alles andere als egoistisch. Im Gegenteil. Es ist das Beste, was Du für Dich und für Andere tun kannst. Auch deshalb, weil Du Deinen Mitmenschen Verantwortung zurückgibst, indem sie selbst lernen dürfen, für sich einzustehen. So entsteht Freiheit für Dich und alle Anderen.
Wie ernst wir uns selbst nehmen und wie viel wir selbst uns wert sind, strahlen wir nach außen aus. Das Bild, das wir von uns selbst haben, spiegelt sich im Außen.
Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es Andere auch nicht.
Marshall Rosenberg
Wie ist es bei Dir? Fällt es dir leicht, für Dich selbst zu sorgen oder stehen die Bedürfnisse Anderer immer an erster Stelle?
Auf einer Skala von 1 bis 10: wo siehst Du Dich, wenn 1 für totale Selbstvernachlässigung steht und 10 für eine perfekte und umfassende Selbstfürsorge. Was ist Deine Zahl?